Selbstorganisiertes Lernen «Balance zwischen Selbst- und Fremdorganisation»

Interview mit Prof. Dr. Francesca Suter, Professorin für Erziehungswissenschaften
an der Pädagogischen Hochschule Chur.

«Persönlichkeitsentwicklung, Motivation, Metakognition, Planungskompetenz, Selbstkompetenz, Wissenstransfer, Selbstreflexion» – dies und mehr soll das sogenannte SOL, das seit 2012 im Lehrplan der Zürcher Gymnasien verankert ist, fördern. Das Konzept wird seit der Einführung kontrovers diskutiert, und zwar von Lehrpersonen und Schüler:innen. Im Gespräch erklärt die Fachexpertin Prof. Dr. Francesca Suter von der Pädagogischen Hochschule Graubünden, wie aus wissenschaftlicher Sicht das SOL bewertet wird. Im Anschluss stellen die Fachschaften Biologie und Englisch exemplarisch ihre Projekte vor und reflektieren kritisch die Umsetzung des selbstorganisierten Lernens in ihrem Fach.


Eine externe Evaluation unserer Schule, die unter anderem unser SOL untersuchte, kommt zum Resultat, dass das SOL von der Lehrerschaft an der KBW wesentlich positiver als von der Schülerschaft bewertet wird. Ist dies ein Befund, den die Forschung bestätigen kann?

Francesca Suter: Einschätzungen von Lehrpersonen und Schüler:innen über den Unterricht können variieren. Lehrpersonenurteile können durch ihre Selbstwahrnehmung beeinflusst sein, während Schüler:innen zwar weniger Expertise, aber vielfältigere Daten bieten. Welche Gruppe den Unterricht nun angemessener beurteilt, ist nicht einfach zu sagen. Vieles hängt von den konkreten Frageformulierungen der Evaluation ab, die zuverlässige oder weniger zuverlässige Antworten liefern können. Grundsätzlich können Schüler:innen wertvolle Hinweise geben, die zur Verbesserung des Unterrichts beitragen. Untersuchungen zeigen in Bezug auf das SOL beispielsweise, dass Schüler:innen SOL positiver bewerten, wenn sie sich in diesem Fach kompetenter fühlen. Vor allem Schüler: innen, die sich selbst nicht gut regulieren können, finden sich im SOL weniger gut zurecht.

Wie kann man den Schüler:innen vermitteln, dass SOL wichtig ist?
Man sollte den Schüler:innen nicht nur vermitteln, dass SOL wichtig ist, sondern auch warum. Menschen motivieren sich dann für eine Sache, wenn sie darin einen Wert erkennen und glauben, dass sie die erforderlichen Fähigkeiten besitzen, um sie zu meistern. Im SOL lernen Schüler:innen, sich selbst Ziele zu setzen, den Lernprozess und ihre Zeit zu planen und Strategien einzusetzen, die sie ans Ziel bringen. Dabei ist es völlig normal, auf Probleme zu stossen, was manchmal frustrierend sein kann. Die Schüler:innen lernen, ihre Fortschritte zu überwachen, Schwierigkeiten zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren. Sie lernen, auch in schwierigen Situationen motiviert zu bleiben und nicht sofort aufzugeben. Das sind überfachliche Kompetenzen, die ihnen ebenso helfen, ihre ganz persönlichen Ziele zu erreichen. SOL zielt also darauf ab, gewisse Fähigkeiten zu trainieren, die nicht nur in der Schule, sondern auch im Berufs- und im Privatleben nützlich sind. Wenn Schüler:innen den Wert von SOL zwar erkennen, sich aber mit der Freiheit im SOL überfordert fühlen, kann das ihre Motivation beeinträchtigen. In solchen Fällen ist es wichtig, dass die Lehrpersonen Hilfestellungen bieten. 

Worin besteht der Wert des SOL – aus pädagogischer, entwicklungspsychologischer und didaktischer Sicht?
SOL bietet als didaktisches Setting die Möglichkeit, Schüler:innen in ihrer Selbstregulation zu fördern, indem dort die Fähigkeiten geübt werden, sich selbst Ziele zu setzen, den eigenen Fortschritt zu überwachen und das eigene Handeln zu regulieren. Zahlreiche Studien belegen den Zusammenhang zwischen einer höheren Selbstregulation und schulischem sowie ausserschulischem Erfolg, einer verbesserten mentalen Gesundheit und einem gesünderen Lebensstil. Didaktisch betrachtet ermöglicht SOL zudem eine differenzierte Anpassung an die individuellen Bedürfnisse der Schüler: innen. Allerdings zeigen empirische Erkenntnisse, dass es noch Verbesserungspotenzial in der Umsetzung von SOL gibt. Evaluationsstudien wie die des Zürcher SOL-Projekts aus dem Jahr 2012 oder jenes im Kanton Bern aus dem Jahr 2016 weisen darauf hin, dass SOL nicht zwingend diese Kompetenzen besser fördert als der konventionelle Unterricht. Mit Ausnahme vom Zeitmanagement zeigte sich sogar ein verminderter Strategieeinsatz der Schüler:innen im SOL. Besonders Schüler:innen mit hohen fachlichen und überfachlichen Kompetenzen scheinen von SOL zu profitieren. Was in didaktischen Settings wie SOL oft noch fehlt, ist eine explizite Vermittlung von Lernstrategien, damit Schüler:innen mit der Offenheit von SOL besser umgehen können. Damit meine ich, dass die «4 W» von Lernstrategien explizit mit den Schüler:innen diskutiert werden, also «was», «wie», «wann» und «warum».

Wie sieht guter selbstorganisierter Unterricht aus?
In der Unterrichtsforschung sprechen wir von Oberflächen- und Tiefenstrukturen des Unterrichts. Es reicht nicht aus, dass Schüler:innen im SOL lediglich äusserlich anders lernen, beispielsweise in eigenständigen Arbeitsphasen statt im Klassenverband. Wichtiger sind die ‚Tiefenstrukturen‘. SOL sollte Schüler:innen zum Denken anregen und anspruchsvolle Aufgaben bieten. Dies bedeutet, dass guter selbstorganisierter Unterricht die individuellen Bedürfnisse der Schüler: innen berücksichtigt und eine klare Strukturierung, kognitiv herausfordernde Aufgaben und eine effektive Klassenführung einschliesst. Im SOL sollten Schüler:innen nicht völlig auf sich alleine gestellt sein. Vielmehr sollte der Prozess des ‚Lernen-Lernens‘ gelehrt werden. Daher erfordert erfolgreicher selbstorganisierter Unterricht eine ausgewogene Balance zwischen Selbst- und Fremdorganisation. Hierbei ist die hohe Professionalität der Lehrpersonen zentral.

Wo sehen Sie Grenzen der Umsetzung von SOL?
Die Grenzen der Umsetzung von SOL zeigen sich in Forschungsergebnissen wie einem systematischen Review von Hauk und Gröschner aus dem Jahr 2022. Diese Analyse verglich schüler:innenzentrierte mit lehrer:innenzentrierten Unterrichtsformen. Die Zusammenfassung von 20 Studien ergab, dass schüler: innenzentrierte Ansätze zwar positive Auswirkungen auf die Motivation der Schüler:innen haben, jedoch gemischte Effekte auf ihr tatsächliches Lernen zeigen – also von positiv bis negativ reichen. Dies verdeutlichen zwei wichtige Punkte: Erstens bedeutet eine gesteigerte Motivation nicht automatisch eine Verbesserung des Lernens. Zweitens ist SOL kein Selbstzweck. In der Diskussion um SOL und andere schüler:innenzentrierte Unterrichtsformen vermisse ich manchmal eine differenzierte Betrachtung der Tiefenstrukturen des Unterrichts. Schüler:innen benötigen auch im SOL eine klare Anleitung, kognitiv herausfordernde Aufgaben und gezieltes Feedback seitens der Lehrperson, um effektiv zu lernen.

Das Interview führten Martina Albertini und Leander Schickling, Deutschlehrpersonen