«Ein Gedicht ist immer schlauer»

Nach den zwei erfolgreichen Romanen «Wurfschatten» (2014) und «Der Sprung» (2019) überraschte 2022 die Autorin Simone Lappert mit dem Lyrikband «längst fällige verwilderung» ihre Leserschaft. In einer Spoken Poetry Performance inszenierte sie am 22.12.2022 an der KBW gemeinsam mit der Musikerin Martina Berther am E-Bass ihre klingend dichten Texte. Wir haben im Anschluss mit den beiden Künstlerinnen über Lyrik, Kunst und das Scheitern gesprochen.


Wie wichtig ist die Performance beim Vortrag Ihrer Lyrik?

Simone Lappert:
Für mich ist ein Text immer auch ein Klangkörper. Ich schreibe über das Gehör und mache mir Ton, Rhythmus und Tempo zunutze, weil Klang auch immer Inhaltsträger ist. Zusammen mit einer Musikerin kann ich meine Texte nochmals ganz anders denken, bearbeiten und fühlen. Das bringt den Text in eine Dreidimensionalität und holt ihn in den Raum hinein.

Martina Berther:
Je nachdem, was ich spiele, verändert das die Farbe des Textes natürlich stark. Im Zusammenspiel mit Simone ploppen dann einzelne Wortbilder auf und wir beeinflussen uns auf der Bühne gegenseitig.

SL:
Wenn ich alleine performe, bin ich auf den Raum im Text reduziert. Mit Martina bildet sich eine ganze Landschaft, in die ich eintauche und die die Klangfarbe meines Sprechens verändert. Es entsteht schon einmal ein dunkler Wald oder die Pampa von Albany, in die ich hineinspreche.


Wie viel ist dabei Improvisation?


SL:
Grundsätzlich ist das ganze Projekt aus Improvisation entstanden. Wir haben einfach ausprobiert, was passiert wenn wir unsere Wort- und Klangbilder übereinanderlegen, ohne je etwas aufzuschreiben.

MB:
Es bilden sich während der Performance auch Nuancen aus, die sich permanent verändern. Wir performen immer unterschiedlich lang.

SL:
Manchmal müssen wir auch bewusst verlangsamen und Länge aushalten, hören, was passiert.


Unsere Schüler/innen lernen am Gymnasium noch das klassische Handwerk der Interpretation, markieren mit Buntstiften und versuchen, Bedeutung herauszufiltern. Halten Sie es überhaupt noch für sinnvoll, die Klassiker in dieser Form zu unterrichten? Sollten wir uns nicht lieber grundsätzlich in die zeitgenössische Textkunst stürzen?


MB:
Ich denke, eine Mischung aus Tradition und Zeitgenössischem wäre erstrebenswert. Vor allem weil im klassischen Bildungskanon meines Erachtens männliche Autoren dominant sind. Wenn ich mich an meine Schulzeit zurückerinnere, waren eigentlich alle Fächer, nicht nur die Literatur, stark männlich geprägt. Daher ist es wünschenswert, wenn die Lektüre modern ist. Vielleicht sollte man überhaupt das ganze Schulsystem ein wenig auffrischen, und zwar nicht nur mit einem neuen Schulgebäude. (lacht) Mein erster Zugang zu Simones Gedichten war übrigens zunächst auch ein analytischer. Die Texte kamen mir wie Rätsel vor, die ich knacken muss. Interessanter finde ich unterdessen, dass ihre Texte weniger mit dem Kopf als mit dem Körper erfahrbar sind.

SL:
Es ist wichtig, zu wissen, dass es Instrumente gibt, auch einen kritischen Überblick über die Literaturgeschichte halte ich für gewinnbringend. Den alleinigen Fokus auf das Analytische finde ich aber hochproblematisch. Wir wollen immer alles verstehen, und wenn wir etwas nicht verstehen, macht es uns Angst. Kunst darf oder muss aber auch rätselhaft sein. In ihr steckt immer die Möglichkeit, das Nicht-Verstehen als etwas Positives zu begreifen. Und das kann eine ungeheure Kraft entwickeln.

MB:
Wenn wir ein wenig trainieren könnten, dass es nicht stets um richtig oder falsch geht, dann käme uns das gesellschaftlich zugute. Vielleicht bringt es uns nämlich eher weiter, wenn wir einander neugierig begegnen, statt immer sofort bewertend zu klassifizieren.

SL:
Ein Gedicht ist immer schlauer als seine Autorin. Die Schüler/innen haben mit ihren Buntstiften sicherlich mehr herausgefunden, als ich jemals in meinen Texten sehen werde. Ich sehe das ähnlich kritisch wie Susan Sonntag, die bereits 1966 in ihrem Essay «Against Interpretation» fordert, dass wir keine Interpretation in der hermeneutischen Tradition brauchen, sondern «eine Erotik der Kunst». Nicht nur Nicht-Verstehen aushalten, sondern auch dem sinnlichen Erleben Raum geben.


Warum sind Ihre Gedichttexte alle kleingeschrieben? Ein politisches Statement oder ein ästhetischer Kunstgriff?


SL:
Gerade in der sprachlich extrem reduzierten Lyrik ist es mir wichtig, dass formal kein Wort ein grösseres Gewicht erhält. So entstehen neue Bezüge und die Worte entwickeln eine Dynamik untereinander. Ein «und» erhält somit das gleiche Gewicht wie ein «schatten». Mir geht es sozusagen um eine demokratische Gleichstellung der Worte. (lacht)


Muss man in der Schweiz sich durch ein, zwei erfolgreiche Romane die Sporen verdienen, um einmal einen Lyrikband veröffentlichen zu können?


SL:
In der Schweiz gibt es durchaus Verlage, die Autor/innen mit einem Lyrikdebut publizieren. Die sind aber nicht auf dem Radar der breiten Öffentlichkeit, sodass man das Gefühl haben könnte, die Lyrik findet gar nicht statt, obwohl sie im Gegenteil laut und wild ist. Viele kleine Verlage legen interessante Lyrikprogramme auf. Grosse Verlage hingegen verlegen eher seltener Lyrik, sie sind vorsichtiger. Dann ist es besonders schön, wenn sie sich plötzlich doch dazu entscheiden. Lyrik als Kunst bleibt ein «Off Space». Für mich ist die Lyrik die freieste und schönste Form der Literatur.


Sie sind heute als Performerinnen aufgetreten. Muss der Begriff der Autorin oder Musikerin weiter gefasst werden?


SL:
Für uns ist das ein Geschenk. Wir hatten beide nicht damit gerechnet, dass wir mit unserer Performance so viel auftreten dürfen. Dass wir eine so krasse Reise mit Lyrik von der Elbphilharmonie bis zu Schullesungen machen können, finde ich extrem toll. Das führt aber auch dazu, dass daneben nicht mehr viel Platz bleibt. Schreiben neben einer intensiven Lesereise ist eigentlich ausgeschlossen.

MB:
Für mich ist das ganz ähnlich. Ich habe noch andere Projekte und muss mir den Raum dafür hart erkämpfen. Aber im Übungsraum kreativ zu sein, heisst auch, kein Geld zu verdienen. Hinzu kommt die permanente – vielleicht unberechtigte – Angst der Kunstschaffenden, dass man schnell unsichtbar wird, wenn man sich zu lange aus der Öffentlichkeit zurückzieht.


Frau Lappert, Sie haben Kunst am Literaturinstitut Biel studiert. Ist Literatur ein Handwerk, das man sich in drei Jahren aneignen kann?


SL:
Man erhält leider keinen Werkzeugkasten mit Checkliste zum Abhaken, wie man Schriftsteller/in wird. Was man aber lernen kann, ist im Kontakt mit seiner Arbeit zu bleiben, Umwege zu akzeptieren und sich kritisch zu hinterfragen. Letztendlich geht es immer um die Frage, wie ich den Text auf die Höhe seiner Möglichkeiten bringe. Vor allem der Freiraum, sich während drei Jahren Studium intensiv mit Kunst und mit anderen Künstler/innen zu beschäftigen, bringt dabei sehr viel.


Ich möchte mit dem Scheitern, das eine Art Leitmotiv Ihres Gedichtbandes ist, enden. Unsere Schüler:innen haben häufig Angst vor dem Scheitern: in der Probezeit, an Prüfungen oder nach der Schulzeit, sein Glück nicht zu finden. Wie gehen Sie mit dem Scheitern um?


SL:
Darauf möchte ich mit Beckett antworten: Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better. Das ist vielleicht auf ein Schulsystem bezogen etwas zynisch, aber im Kunstbereich ist das Scheitern ein Risiko, das ich eingehen muss, sonst komme ich nirgendwohin. Wenn ich mich in meiner Sicherheitszone bewege, dann gebe ich nach 20 Seiten auf. Scheitern heisst für mich, dass es viele Umwege gibt, die es zu gehen gilt. Ganz viele Seiten, die nicht im Buch landen, viele Figuren, die nicht atmen oder einfach nicht das machen, was ich geplant habe. Wenn ich versuche, den perfekten Roman zu schreiben, schreib ich ihn wahrscheinlich nie.

MB:
Ohne zu scheitern, kann man sich nicht entwickeln. Das klingt nun leichter, als es in Wirklichkeit ist. Man identifiziert sich doch extrem mit dem, was man macht. Unser Beruf ist sehr von Ängsten geprägt, aber man muss einfach bereit sein, zu scheitern. Leider müssen wir vor allem in der Musik oft auf Termin produktiv sein und man kann es sich gar nicht leisten zu scheitern. Ich glaube, dass innerhalb dieses permanenten Drucks des Nicht-Scheiterns gute Kunst verloren geht.

SL:
Die Frage ist auch, inwiefern es belohnt wird, kreative Risiken einzugehen. Ich befürchte, dass unser gesellschaftliches und schulisches System sehr schnell mit repressivem Druck reagiert, alles muss bewertbar sein, das schränkt ein. Dabei brauchen wir genau diese Jugendlichen, die neue Wege gehen und das Scheitern in Kauf nehmen.

Das Interview führte Leander Schickling, Deutschlehrer